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August 2022

Wir freuen uns sehr darüber, dass Ilija Trojanow uns seine Rede zur Eröffnung der Bregenzer Festspiele 2022 zur Veröffentlichung auf unserer Website zur Verfügung gestellt hat.

 
"Und gemeint ist", schrieb Staudte 1960, "daß es nur ein moralisches Verhalten gibt, mit aller Kraft gegen den Krieg zu sein. Den Anfängen zu wehren. Wenn es zu spät ist, gibt es nur noch Opfer. Opfer des Krieges sind nicht nur die Toten."
 
Und Ilija Trojanow, der sich als Staudte-Fan bezeichnet, schreibt 2022: "Wenn wir wissen, oder zumindest wissen sollten, wie sehr der Krieg alles negiert, was uns wertvoll ist, wieso bekämpfen wir ihn nicht entschiedener in Friedenszeiten?"
 
***
 
Der Ton des Krieges, die Tonarten des Friedens
– Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 2022 -
 
Liebe Zuhörende,
 
die Sieben, die Drei und das Ass. In einer Oper von Tschaikowski sind das die drei Karten, die am Spieltisch stets Gewinn garantieren.
 
Zunächst die Sieben. Eine Glückszahl, im Westen wie auch in Odessa. Von dort stammt das Lied Gop so smykom. Ein Gaunerlied. Durchsetzt mit Argot besingt es das Leben eines Räubers, der nichts bereut. Der Publikumsliebling Leonid Utjossow, ebenfalls aus Odessa, darf mit seiner Band im Kreml vor ausgewählten Zensoren auftreten. Während des Konzerts erhält er den Befehl des anwesenden Stalin, er solle Gop so smykom spielen. Doch das Lied ist auf Geheiß Stalins verboten! Was soll der Musiker tun? Den Befehl Stalins missachten oder das Gesetz Stalins?
 
Die Sieben, die Drei und das Ass. Dreimal Zuversicht auf Gewinn.
 
Nun die Drei. Eine heilige Zahl. Nicht nur im Osten. Der jüdisch-polnisch-russische Komponist Mieczyslaw Weinberg schreibt eine Oper mit dem unscheinbaren Titel Die Passagierin. In einer Szene wird der Geiger Tadeusz in Auschwitz von einem deutschen Offizier aufgefordert, zu seinem Amüsement aufzuspielen, einen süßlichen Walzer. Stattdessen intoniert er die Chaconne in d-Moll von Johann Sebastian Bach. Der polnische Widerstandskämpfer verteidigt die deutsche Kultur gegen den vulgären Nationalisten. Die glasklare Logik Bachs konterkariert die schmierige Unlogik der Gewaltherrschaft – das kann der Nazi nicht ertragen. Tadeusz wird abgeführt, in den Tod.
 
Die Sieben, die Drei und schließlich … das Ass. Aller guten Gewinne sind drei.
 
Das Ass ist ein sicherer Stich, eigentlich. Doch das Spiel geht schief, weil auf Pique Dame gesetzt wird, grausig schief: eine Inszenierung der Tschaikowski-Oper an der Mailänder Scala, die Premiere am 23. Februar 2022 ist ein jubelumtoster Erfolg. Stunden später fallen die ersten Raketen auf die Ukraine. Wissen Sie, wo die ersten zwei Aufführungen von Pique Dame stattfanden? In Sankt Petersburg am 19. Dezember 1890 und in Kiew am 31. Dezember desselben Jahres. Elf Tage dazwischen – drei plus sieben plus ein vermaledeites Ass.
 
Das Verhältnis von Kunst und Macht, es ist komplex.
 
I.
 
An der Scala dirigiert ein Mann namens Valery Gergiev, ein Meister am Pult, ein Virtuose der Macht. Einige Wochen später wird ein Video von Alexei Nawalny veröffentlicht. Er steht vor der Metropolitan Opera in New York als hemdsärmeliger Talkshowmaster, er beherrscht die Klaviatur der vermeintlich harmlosen Ironie, die zu ätzen beginnt, je tiefer er uns in den moralischen Morast führt. Denn der Mann, der den Taktstock schwingt, erweist sich als Großgrundgewinnler: Dutzende Immobilien, vor allem in Italien – eine Villa mit achtzehn Zimmern in einem Golfklub, ein ganzes Kap in Amalfi, dreißig Hektar in Rimini, 800 000 qm in Mailand, ein Palazzo in Venedig und und und.
 
Das Ass im Ärmel dieses Dirigenten ist sein eigener Wohltätigkeitsfonds, an dem er sich nach Belieben bedient, gefördert von den mafiösen Banken seines Landes. Und von der Moskauer Regierung. Vier Milliarden Rubel insgesamt. Nun da wir dies wissen, stellt sich die giftige Frage: Was hören wir, wenn wir seiner gefeierten Interpretation von Igor Strawinskys Le Sacre du Printemps erneut lauschen? Schamanen in Trance am Lagerfeuer oder Satrapen, die um das Goldene Kalb tanzen? Wilde Ekstase oder hemmungslose Huldigung der schlimmsten Zivilisationskrankheit, der Gier? Was wird geopfert? Die Jungfräulichkeit oder der Anstand? Das ist nicht mehr Tschaikowski und auch nicht Strawinsky, das ist eher Kurt Weill, das sind Die sieben Todsünden, vor allem eine, die Habsucht.
 
Лжецы и лицемеры, wiederholt Alexei Nawalny, sowohl russischer wie ukrainischer Abstammung, in beiden Sprachen beheimatet, inzwischen Häftling in der Strafkolonie Nr. 6. „Lügner und Heuchler.“ Nicht nur in Russland. Vergessen wir nicht die deutschen und österreichischen Groupies von Putin, die mit seinen Oligarchen Händchen gehalten haben – bekanntlich wäscht eine lupenrein demokratische Hand die andere –, darunter ehemalige Kanzler und Ministerinnen. Wie viel Sinekure befriedigt die Gier?
 
Seit dem 24. Februar dieses Jahres zeigt der Krieg wieder einmal seine Fratze. Der Krieg! Die schlimmste Waffe der Macht. Die ultimative Erniedrigung des Menschlichen. Imperiale Alchemie, bei der verkohlte Männer in heroische Diamanten verwandelt werden. Die zerstörten Städte in der Ukraine sind nicht Ausdruck unfassbaren Wahns, sondern unvermeidbare Folge der Logik enthemmter Macht. Oder wie Stalin gesagt hätte: Kein Mensch, kein Problem.
 
Seit Kriegsausbruch sprechen wir die Sprache des Krieges. Antworten auf jede Frage mit einem entschiedenen Ja oder Nein. Oft ohne die Frage wirklich verstanden zu haben. Reden von Kriegsverbrechen und vergessen, dass der Krieg an sich ein Verbrechen ist, unabhängig davon, wie gerechtfertigt die Selbstverteidigung sein mag, egal, wie die Aggressoren vordringen, der Krieg ist perverse, redundante Monotonie, die nichts anderes zulässt als den einen, den angeblich wahren Ton. So ist es, einmal und immer wieder.
 
Am 12. August 1914 marschieren 200.000 österreichisch-ungarische Soldaten siegessicher über die Drina und die Save in Serbien ein und stoßen auf erbitterten Widerstand. Scharmützel auf Scharmützel, die imperiale Armee weicht zurück. Das Oberkommando stachelt die Truppen an: „Jede Humanität und Weichheit ist höchst unangebracht.“ Die Soldaten vernichten Dörfer, hinterlassen verbrannte Erde, vergewaltigen Frauen, exekutieren Männer. In dem Städtchen Šabac zum Beispiel sechzig Zivilisten, vor der Kirche abgeschlachtet mit dem Bajonett. All das ist dokumentiert in dem 1916 erschienenen Bericht eines Schweizer Professors namens Reiss, übersetzt in mehrere Sprachen. Niemand wurde bestraft. Schlimmer noch, diese Massaker sind ist so gut wie vergessen, hingegen werden in jedem Örtchen dieses schönen Landes die eigenen Kriegshelden heldengemäß gewürdigt. Das ist anderswo nicht anders. Unter der Schläfe des Friedens pocht der kriegerische Puls.
 
Was uns am Krieg erschüttert, ist nicht nur der Tod, sondern die Vereitelung des Lebens in seiner ausufernden Schönheit. Es ist seine Gewalttätigkeit, auch in der Sprache. Was sich in friedlicheren Zeiten als Stottern und Stammeln offenbart, entwickelt inmitten von Bombeneinschlägen eine unentrinnbare Zwanghaftigkeit. In ihrem Schatten hat alles andere zu verstummen. Alle Ambivalenzen, alle Schattierungen, alle Nuancen. Ratschläge werden brachial zu Schlägen und aus dem guten Rat wird im Salutierschritt der Verrat. Es wird nicht gesät und geerntet, sondern geplündert, es wird nicht getanzt, es wird exerziert. Der Krieg setzt einen alten jiddischen Fluch in die leidvolle Tat um: Ale tseyn zoln dir aroysfaln, nor eyner zol dir blaybn af tsonveytik. Mögen dir alle Zähne ausfallen, außer jenem, der dir Schmerzen bereitet. Krieg ist verdammte Ein-Tönigkeit.
 
Das Verhältnis von Kunst und Macht, es ist sehr komplex. Die Wahrheit des Tages ist nicht die Wahrheit der Nacht. Weswegen Kunst fast nie vom Krieg inspiriert, sondern dem Krieg auf mühsamste Weise abgerungen ist. Die Ästhetik ist ein Opfer mörderischer Intoleranz. Die Kunst und der Krieg sind Antipoden. Nehmen wir Isaak Babel. Auch er aus Odessa, ein gebildeter Feingeist, durch und durch friedfertig, der sich unerbittlich zwang, aus einem Gefühl der Verantwortung heraus, Eindrücke von der furchterregenden Gewalt und Brutalität des Bürgerkriegs in der Sowjetunion nach 1918 einzufangen. Er setzte sich dem Verhassten aus, um es in seine eigene Sprache zu verwandeln. Das Ergebnis ist niederschmetternd, kaum erträglich. Einen Kosaken lässt er sagen: „Mit einer Kugel kannst du nicht dorthin dringen, wo der Mensch eine Seele hat, und du kannst nicht herausfinden, wie sie ist. Aber ich schone mich selbst auch nicht, ich stampfe manchmal auf dem Feind herum, eine Stunde lang, weil ich wissen will, wie es da drinnen aussieht.“ Bei Babel gibt es keine Heroisierung und keinen Hass. Wie überhaupt die Literatur ein Universum der Vielfalt ist, mit vielen Tonarten in Verwendung. Wer aus Hass schreibt, um eine Rechnung zu begleichen, geht ästhetisch bankrott. Jenseits des poetischen Wortes herrscht die Einfalt.
 
Hören wir den dritten Satz des zweiten Streichquartetts von Béla Bartók, fast zeitgleich mit Babels Kurzgeschichten entstanden. Die Trauer dieser lyrischen Dissonanz zieht uns den Boden unter den Füßen weg, ein Strudel erfasst uns, wir fallen ins Haltlose, über das Zupfen der letzten Noten hinaus. Kondensierte Verzweiflung nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs. Doch auch hier, wie schon bei Babel gibt es Momente lebensbejahender Schönheit. Die Kunst hält Erhöhung und Erlösung bereit. Gegen die Fernsehbilder können wir abstumpfen, gegen die Aufschreie der Kunst gibt es keine Immunisierung, solange wir noch Gefühle haben.
 
Ein Vogel geistert durch die Mythologie Usbekistans, ein hässlicher, aschfarbener Vogel namens Qaqnus. Er hat tausend Zähne im Schnabel, und jeder Zahn singt eine andere Melodie. Er sammelt Dornen und Zweige, baut sich ein Nest und beginnt zu singen. Sein Gesang ist unerträglich schön, die menschlichen Zuhörer werden krank. Der Gesang entzündet den Vogel, er verbrennt. Der Asche entschlüpft ein Küken, das sein Leben damit verbringt, Dornen und Zweige zu sammeln, um eines Tages auf seinem eigenen Scheiterhaufen singen zu können.
 
Damit ist der Bogen geschlagen: Der Krieg lässt nur den Zahn des Schmerzes übrig; die tausend Zähne der Kunst singen tausend unterschiedliche Lieder.
 
II.
 
Es gibt einen kalten Krieg und es gibt einen heißen Krieg, und beide finden im versehrten Frieden statt. Wenn wir wissen, oder zumindest wissen sollten, wie sehr der Krieg alles negiert, was uns wertvoll ist, wieso bekämpfen wir ihn nicht entschiedener in Friedenszeiten? Wieso werden Soldaten und Generäle im öffentlichen Raum geehrt, mutige Deserteure hingegen totgeschwiegen, abgesehen von einem einzigen Mahnmal in Wien, das wie ein Alibi wirkt, errichtet nach sechzig schamhaften Jahren.
 
Und was bringen wir den Kindern bei? Vor einigen Wochen habe ich zu einer Schullektüre gegriffen, mit der ich einst sechs Monate lang gequält wurde: Julius Caesar, De bello Gallico. Ich las das erste Kapitel, auf Deutsch. Es war entsetzlich. Dieser Unterrichtstext ist eine Apologie des Massenmords, verfasst mit der gefälligen Selbstherrlichkeit eines siegreichen Feldherrn. Und so etwas mussten wir durchpauken. Warum? Um das lateinische Wort für „abschlachten“ zu lernen? Interficere. Es kommt oft genug vor. Um es konjugieren zu können? (Interficio, interfeci, interfectus.) Am wichtigsten: Interfecerunt – es wurden alle abgeschlachtet.
 
Was haben wir aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts gelernt, wenn nicht dies: Nationalismus führt zu Krieg. Unweigerlich. Nur eine Frage der Zeit. „Nationalism kills“, verkündete ein Plakat in England, als das Land 1975 über den EU-Beitritt abstimmte. Diese Lehre wird immer wieder vergessen. Im Jahre 2022 können wir nur 7 mehr zerknirscht sagen quod erat demonstrandum und uns trösten mit einem beschwingten humanum errare est, oft zitiert, stets unvollständig. Denn bei Augustinus heißt es: „Humanum fuit errare, diabolicum est per animositatem in errore manere.“ Was ich übersetzen kann, Julius Caesar sei Dank: „Irren ist menschlich, durch Arroganz im Irrtum zu verharren, jedoch teuflisch.“
 
III.
 
In Friedenszeiten streift der Tod manchmal als Geld getarnt durchs Land. Sabotiert Traditionen. Vergiftet das natürliche Rechtsempfinden. Der heiße Krieg, das ist zum Beispiel die Extraktion – damit ist nicht nur das Herausziehen eines Zahns gemeint, sondern auch das Ausbuddeln von Bodenschätzen. Der Grund für die systematische Gier unserer Zeit liegt unter der Erde. Wir können uns nehmen, was uns untertan sein soll. Wir haben Techniken entwickelt, um in kürzester Zeit sehr viele Schätze herauszuholen. Was in Millionen von Jahren entstanden ist, verbrauchen wir in einem Jubeljahr. Nickel etwa. Gefördert beispielsweise durch einen Bergbaukonzern namens Solway.
 
Nur wer glaubt, es wäre akzeptabel, die Sparkasse zu überfallen, um Fidelio auf die Bühne zu bringen, kann so tun, als wäre Sponsoring wertneutral. Darf sich die Kunst von mafiös organisierten Konzernen oder von Firmen finanzieren lassen, die brutale Ausbeutung betreiben, von Mensch und Natur? Nein, wir müssen stets genau hinschauen, auch nach Guatemala, auf einen See, wo die Fische tot auf dem Wasser treiben. Weswegen es richtig und richtungsweisend war, dass die Festspiele in diesem Fall eine unabhängige Untersuchung in Auftrag gegeben haben, die zu einem Abbruch der Beziehungen zu Solway geführt hat. Ich war nicht an diesem See und weiß wenig über Nickel, aber ich war in Sierra Leone, wo Diamanten abgebaut werden, und kann berichten, wie Extraktion funktioniert – es könnte Sie interessieren.
 
Aus der Ferne sehen die Erhebungen wie Hügel aus. Aus der Nähe erweisen sie sich als Geröllhalden, bis zu fünfzig Meter hoch. Steht man mitten in Koidu City, links die Commercial Bank und rechts die Union Bank, sieht man am Ende der Flucht eine dieser Halden. Auf einmal versteht man das deutsche Wort Berg-Bau. Wortwörtlich. Wenn die Sprengungen erfolgen, erzittert die ganze Stadt, erbeben alle Häuser. Straßen werden blockiert, alle Arbeit ruht, die Mine herrscht über alles. Die Erde unter Koidu City birgt Diamanten. Oft wird behauptet, die Menschen vor Ort hätten nichts von den Bodenschätzen. Das ist falsch: Sie haben gravierende Nachteile. Statt Wohlstand wirtschaftliche Stagnation und Verarmung. Nach einem langen Bürgerkrieg, finanziert von diesen verfluchten Diamanten, auch Blutdiamanten genannt. Das Prinzip ist einfach: Sklaven und Söldner – die einen holen die Diamanten aus der Erde, die anderen schützen die Ausbeutung. Die Minengesellschaft hat nichts für die Stadt und die Region getan. Es ist keine Infrastruktur sichtbar. Die lokale Bevölkerung ist aus Sicht der Konzerne „überflüssig“: Sie wird als Arbeitskraft zunehmend weniger benötigt, zudem ist sie im Weg, denn die Vorkommen liegen unter der Stadt und den umliegenden Dörfern. Vor einer der Geröllhalden sitzen dreißig Frauen auf Felsbrocken, erschöpft nach einem langen Tag der steineklopfenden Monotonie. Sie haben keine Werkzeuge außer einigen Hämmern und Hacken. Die Beine sind zerschnitten, die Hände schwielig und jede einzelne schaut zehn Jahre älter aus, als sie ist. Sie besitzen kein Land und andere Arbeit gibt es nicht.
 
Dieses gewalttätige Verfahren wird Okkupationswirtschaft genannt. Gemeint ist die hemmungslose Nutzung herrenloser Güter. „In Guatemala tauschen wir unseren Reichtum an Bodenschätzen gegen Brosamen aus“, notiert der Anwalt Rafael Maldonado in einem Facebook-Eintrag am 12. November 2021. „Das Bergbauunternehmen verdient Milliarden im Jahr und zahlt uns Almosen, während es Zerstörung und Verschmutzung hinterlässt." Gelegentlich gibt es Proteste. Der Ausnahmezustand wird ausgerufen, die Armee marschiert ein, danach kehrt wieder Friedhofsruhe ein.
 
Was in Guatemala und Sierra Leone geschieht, ist permanenter Krieg, gegen unsere Mitmenschen, gegen die Natur. Vor wenigen Wochen erklärte der UNGeneralsekretär, wir müssten endlich unseren „sinnlosen und selbstmörderischen Krieg gegen die Natur beenden.“ Ein Krieg, bei dem das Notwendige und Schöne vernichtet wird, oft um Überflüssiges zu schaffen. Die zynische Erwiderung, wer unter uns habe schon saubere Hände, darf nicht gelten. Wenn Wohlstand nur entstehen kann, indem Mitmenschen geknechtet werden und Natur zerstört wird, dann wird es höchste Zeit, das System zu ändern, nicht nur die Sponsoringregeln.
 
IV.
 
Die Sieben, die Drei und das Ass.
 
Was ist den Künstlern aus unserem anfänglichen Triptychon widerfahren?
 
Der Bandleader Leonid Utjossow überstand den Abend im Kreml. Wie auch eine wüste Kritik von Maxim Gorki in der Prawda, der darin die Jazzmusik für die sexuelle Degenerierung verantwortlich machte und als „Musik der Dicken“ abkanzelte. Utjossow beugte und bückte sich, trat hunderte Mal an der Front auf und schrieb Memoiren, in denen er Odessa, diesen quirligen Zusammenfluss der Kulturen, mit zuckersüßer Nostalgie und volkstümelnder Banalität übergoss, getreu den russischen Projektionen auf diese Hafenstadt am Schwarzen Meer.
 
Weinberg hatte es schwerer. Er floh vor den deutschen Truppen aus Warschau nach Minsk, später nach Taschkent, schließlich nach Moskau, auf Einladung Schostakowitschs. Seine Familie wurde von den Nazis ermordet. Im Februar 1953 wurde er verhaftet, wegen „bürgerlichem jüdischen Nationalismus“, weil er angeblich auf der Krim eine jüdische Republik errichten wollte (wer sich dieser Tage über die propagandistischen Tiefflüge Moskaus wundert, sollte sich vergegenwärtigen, dass Putin ein gelehriger Schüler Stalins ist). Stalins Tod rettete Weinberg das Leben. Er mühte sich ab, über die Runden zu kommen, war nie mehr frei von Angst. Opus 138 ist betitelt: Krieg, kein Wort ist grausamer; Opus 143: Die Banner des Friedens. Und sein Meisterwerk, die bereits erwähnte Die Passagierin, wurde erst 2010 in Bregenz szenisch uraufgeführt, 14 Jahre nach seinem Tod.
 
Und das vermaledeite Ass: Pique Dame? Puschkin, der die Vorlage für das Libretto schrieb, verbrachte das Jahr 1823 in Odessa, eine glückliche Zeit, wenn auch unter Aufsicht zaristischer Schergen, die einen seiner Briefe abfingen. Der Dichter erwähnt darin, er studiere Atheismus bei einem tauben Engländer, der bewiesen habe, dass die Seele nicht unsterblich sei. Puschkin wurde daraufhin in die Verbannung geschickt. Und Tschaikowski? Er wird neuerdings nicht mehr aufgeführt, nicht in Polen, nicht in Wales, sein Name wird in der Ukraine von den Straßenschildern entfernt. Angeblich werde er, der an der Intoleranz gegenüber seiner Sexualität zugrunde ging, von dem homophoben Moskauer Diktator und seinen erbärmlichen Schergen propagandistisch vereinnahmt. Der Krieg verwirrt das Denken.
 
Isaak Babel, der Dichter Odessas, erlitt das grausigste Schicksal. Nach drei Tagen ununterbrochener Verhöre und Folter unterschrieb er ein Geständnis, er habe ausländische Spione jahrelang mit den Geheimnissen der sowjetischen Luftfahrt versorgt. Eine reine Erfindung und zudem gestohlen, aus einem seiner Werke, einem Drehbuch über Intrigen unter Wissenschaftlern in einer Fabrik für Luftschiffe. Babel, der scheue Chronist des Kriegs, wurde exekutiert. Sein letzter Roman, den er als sein Meisterwerk betrachtete, ist für immer verschollen.
 
Die Sieben, die Drei und das Ass. Garantierter Gewinn, aber nur für Kriegsprofiteure, für Machthaber, für einige wenige Privilegierte. Alle anderen müssen auf Untergang setzen.
 
So marschieren wir weiter. Zu martialischer Gebrauchsmusik, eingesperrt in einem rhythmischen Käfig, der Taktstock ein Gitterstab, jedes Mal, wenn Marschieren wichtiger wird als Musizieren. Manchmal wirft der Marsch seine Stiefel ab. Ein weiteres Lied aus Odessa: S odesskogo kitschmana. Da knistert und knastert es, Bass und Blech, seht, zwei Knackis, sie taumeln der Freiheit entgegen, wundschwer, herzwund, die Fragen der Klarinette flattern im Rhythmus des Gesangs, wofür kämpfen wir, wofür vergießen wir unser Blut, während die da oben prassen und saufen, die Tuba rülpst, gestorben wird mit einem Lächeln, mein Freund, mit einem Lied auf den Lippen – es endet derart abrupt, dass wir in der Stille hängen.
 
Vor Jahr und Abend saß ich in der Alten Oper zu Frankfurt inmitten des orchestralen Wunders namens Ensemble Modern. Ein Marsch von Helmut Lachenmann wurde angestimmt. Was handkantenbügelfaltensteif begann, löste sich zunehmend auf, die sturen Takte desertierten, die Befehlshoheit der stiernackigen Rhythmen wurde zerlegt. Ich fühlte ein existentielles Wohlbefinden und dachte an eine Anekdote aus dem Ersten Weltkrieg, als ein übereifriger italienischer Offizier aus dem Schützengraben sprang und mit einem fulminanten „Avanti“ seine Truppe zum sinnlosen Angriff aufforderte, worauf die Soldaten ihre weißen Taschentücher herauszogen und ihm hinterherwinkten: „Ciao, ciao, commandante.“
Desertieren wir also aus der Eintönigkeit des Krieges in die Vieltönigkeit der Kunst!
 
 


Dr. h. c. Ralf Schenk
, der Vorstand der DEFA Stiftung, hat uns freundlicherweise diesen Artikel zur Verfügung gestellt.

Staudte_2010_Potsdam_schenk.pdf
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